Die Anforderungen an Führungskräfte haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. In einer zunehmend dynamischen, unsicheren und komplexen Arbeitswelt reicht es nicht mehr aus, nur bestehende Prozesse effizient zu steuern. Gefragt ist die Fähigkeit, gleichzeitig Stabilität zu geben und Wandel aktiv zu gestalten – eine Kompetenz, die unter dem Begriff Ambidextrie immer mehr Aufmerksamkeit erhält.
Was genau sich hinter dem Konzept der „beidhändigen Führung“ verbirgt, warum es heute so relevant ist und wie Führungskräfte diese Fähigkeit entwickeln können, erklärt Latifa Baddour, Diplom-Psychologin, Speakerin und erfahrene Coachin im Bereich Leadership und Veränderungsbegleitung bei der INSITE-Interventions GmbH, einem etablierten EAP-Anbieter. Ein Gespräch über Balance, Selbstreflexion und den konstruktiven Umgang mit Spannungen – mit vielen Impulsen für die Praxis.
Sandra Noske: Ambidextrie in der Führung. Was genau versteht man darunter?
Latifa Baddour: Ambidextrie bedeutet sinngemäß „Beidhändigkeit“. Im Führungskontext heißt das: Als Führungskraft muss ich einerseits Stabilität und Orientierung herstellen, d. h. bestehende Strukturen, Prozesse und Leistungen steuern – das ist die sogenannte Exploitation. Gleichzeitig muss ich aber auch Veränderungen anstoßen, managen und gestalten, Neues erkunden und Innovationen fördern – das ist die Exploration.
Sandra Noske: Warum ist diese Balance heute so entscheidend?
Latifa Baddour: Den Spagat zu schaffen zwischen dem sog. Tagesgeschäft und dem Managen von Veränderungen war für Führungskräfte schon immer ein Thema. Heute leben wir jedoch in einer Welt die sich rasant verändert und das auf verschiedenen Ebenen (technologisch, gesellschaftlich, ökonomisch). In Führungskräfte-Coachings ist der Umgang mit ständigen Veränderungen (selbstbestimmten wie auch fremdbestimmten) immer häufiger ein Anliegen, das Führungskräfte umtreibt und teilweise auch sehr belastet.
Sandra Noske: Wie äußert sich ambidextres Führungsverhalten ganz konkret?
Latifa Baddour: Ambidextre Führungskräfte schaffen ganz bewusst unterschiedliche Rahmenbedingungen für unterschiedliche Aufgaben. Im Tagesgeschäft führen sie eher prozess- und zielorientiert. In Change-Kontexten eher coachend und begleitend. Sie erkennen wann welcher Führungsmodus gefragt ist und können zwischen den Führungsstilen wechseln. Außerdem fördern sie eine Kultur in der sowohl Effizienz als auch Kreativität und Ausprobieren ihren Platz haben und wertgeschätzt werden.
Sandra Noske: Ist das nicht extrem anspruchsvoll für Führungskräfte?
Latifa Baddour: Absolut! Ambidextrie ist eine Führungsherausforderung auf hohem Niveau. Es braucht eine hohe Selbstreflexion („Wo stehen wir gerade? Wo braucht das Team was?“), situatives Führen, Rollenflexibilität (Manager versus Coach) und ganz wichtig Ambiguitätstoleranz. D. h. Widersprüche, Unsicherheiten und Spannungen auszuhalten, und nicht sofort auflösen zu wollen.
Sandra Noske: Warum sollten sich Führungskräfte aktiv mit dem Thema auseinandersetzen?
Latifa Baddour: Um produktiv, zukunftsfähig und handlungsfähig zu bleiben, also auch im eigenen Interesse. Denn wir erleben sie alle täglich: Widersprüchliche Anforderungen, Unsicherheit in der Planung und auch Unsicherheiten beim Gehen neuer Wege. Und immer wieder das Gefühl von Spannungen.
Sandra Noske: Was kann ich als Führungskraft konkret tun?
Latifa Baddour: Wer es als Führungskraft schafft statt einer Entweder-oder-Lösung eine Sowohl-als-auch Lösung im Team zu reflektieren und zu entwickeln, der ist schon einen wesentlichen Schritt weiter. Zudem kann ich als Führungskraft mein eigenes Führungsverhalten reflektieren.
- Wo bin ich einhändig?
- Gebe ich meinem Team klare Ziele, Orientierung und Rahmenbedingungen?
- Schaffe ich Räume fürs Experimentieren – z. B. „Explorationszeiten“ im Kalender, Zukunftswerkstätten, Innovation Labs und toleriere ich Fehler?
- Gelingt es mir Widersprüche, Spannungen und Unsicherheiten auszuhalten und als Team gemeinsam reflektieren, wie sie produktiv gemanagt werden können?